Schlaganfall-Reha

Chaos und Bruch der Biographie

Durch einen Schlaganfall oder ein Schädel-Hirn-Trauma ändert sich das Leben eines Menschen oft dramatisch. Die betroffene Person selbst nimmt dies als chaotischen Zustand ihres Lebens wahr und versucht Ordnung in diese Unordnung zu bringen. Doch der Erfolg bleibt oft aus. Der Verlust von Fähigkeiten und der Selbständigkeit führt nicht nur zu Behinderung, er führt auch zu Verzweiflung und Depression. So wird der Schlaganfall oder das Schädel-Hirn-Trauma zum Bruch im Leben. Es gibt ein davor und ein danach.

Anamnese nicht nur zur Krankheit

Der Mensch als Individuum hat immer eine einzigartige Biographie. Er sieht die Welt subjektiv aus dem Blickwinkel seiner Erfahrungen. Die Erkrankung, insbesondere die entstandenen Defizite, stellen ihn vor Herausforderungen, die er im bisherigen Leben nicht gekannt hat und die seine zuvor vorhandenen Lebensziele über den Haufen werfen.

 

Wenn der Patient von seinem Leben erzählt, hat er eigene Erklärungsmodelle für einzelne Ereignisse und eigene Bewertungsmaßstäbe. Auch die Gegenwart, in der er gerade keinen Sinn findet, bewertet er nach diesen Maßstäben. In der Rehabilitation ist es wichtig den Patienten in seiner Gedankenwelt abzuholen. Die Rehabilitationsanamnese beinhaltet daher auch immer die vom Patienten eingebrachten, für ihn wesentlichen, biografischen Informationen und bisherigen Lebensziele. Nur so lassen sich für ihn reale Rehabilitationsziele formulieren. Er fühlt sich ernst genommen und hat damit den ersten wesentlichen Schritt gemacht.

ICF: Entscheidungshilfe bei der Zielfindung

Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) [1] ist mehr als nur eine Klassifikation der Rehabilitiation. Sie dient der Formulierung der Therapieziele und ist auch geeignet den Verlauf der Wiedererlangung der Selbständigkeit des Betroffenen zu dokumentieren.

Hierzu gibt es fünf Domänen, die beachtet werden:

  1. die Struktur des Körpers und seiner Schädigung (z.B. Hirn, Kopf, Arme, Beine)
  2. die Funktion der einzelnen Körperstrukturen und deren Einschränkung (z.B. sich fortbewegen, hantieren, handeln)
  3. die sich daraus ergebenden (meist erlernten) Fähigkeiten und deren Fehlen (von der erworbenen Sprache bis zum erlernten Beruf, den Hobbies und den sozialen Fähigkeiten)
  4. die Teilhabe in der Familie, der Gesellschaft, im Beruf, im gesamten sozialen Leben
  5. die Kontextfaktoren: Das ist die Umgebung selbst. Dazu gehört die Familie genauso, wie die Wohnung, die Berufsumgebung, die Mitarbeiter in der Firma, die Mobilitätskultur in der man lebt mit privaten und öffentlichen Fahrzeugen, und vieles mehr.

Derzeit scheuen sich noch viele Rehabilitationseinrichtungen davor den ICF anzuwenden. Eine Hilfestellung für einen schnellen Einstieg bietet hierzu die ICF-Checkliste der Deutschen Rentenversicherung. [2]

Zielfindung in der Rehabilitation

In der Rehabilitation arbeitet man vorwiegend mit Zielen der Teilhabe, die einem der Patient aus seinem ganz persönlichen Kontext heraus nennt. Beispielsweise will er wieder die Stiege in seinem Wohnhaus bewältigen können, damit er nicht den ganzen Tag in einem Raum verbringen muss. Oder er will ohne fremde Hilfe aufs WC gehen können. Diese Ziele werden auf ein machbares Handlungsziel heruntergebrochen: Stufen steigen, mit Hilfsmitteln gehen, sicheres An- und Ausziehen, Kontinenz, Körperpflege…

 

Das Handlungsziel lässt sich meist mit einem Assessment messen (bspw. Gehstrecke und Gehgeschwindigkeit bei Gangstörungen). Dies wird für die Erfolgsdokumentation der Rehabilitation eingesetzt. Die Assessments werden auch von den Kostenträgern, den Sozialversicherungen, eingefordert. Da sie auch zur Selbstkontrolle des Therapiefortschrittes sowie zur Evaluierung der Therapieleistungen notwendig sind, ist die Dokumentation kein Mehraufwand.

Evidenz der Therapie

Unser klinisches Handeln ist die Folge eines evidenzbasierten Wissens, angepasst an die Erfordernisse des Alltags. Dieses Setting unterscheidet sich oft grundlegend von der mechanistischen und theorielastigen Alltagsannahme der Forschung. So sind Entscheidungsfragen, die in der Akutmedizin verwendet werden, in der Rehabilitation oft nicht anwendbar.

Evidenz allgemein

Schlaganfall- und SHT-Patienten werden nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin und Therapie behandelt. Das Ergebnis der Therapie hängt hierbei oft von Faktoren ab, die in der klinischen Forschung bisher nur gering Eingang gefunden haben. Wir finden dazu im deutschen Sprachraum einige Leitlinien, welche immer wieder hinterfragt und der wissenschaftlichen Datenlage entsprechend angepasst werden.

 

Derzeit aktuelle bzw. in Arbeit befindliche Leitlinien findet man auf der Internet-Seite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (www.awmf.org). Federführend für die Leitlinienerstellung im Neurorehabilitationsbereich sind hierbei die „Deutsche Gesellschaft der Neurologie“ (www.dgn.org) und „Deutsche Gesellschaft der Neurologischen Gesellschaft“ (www.dgnr.de). Den Zugang zu den Leitlinien findet man über eine der angeführten Seiten, wie auch durch die Internet-Suche mit dem Begriff „Leitlinie“ und dem entsprechenden Reha-Bereich. Da in vielen Bereichen eine Zusammenarbeit mit den Österreichischen Fachgesellschaften besteht und die Infrastruktur der Länder ähnlich ist, darf man von einer Übertragbarkeit der Leitlinien auf Österreich ausgehen.

Aktuell abrufbare Leitlinien [3]

Übergeordnetes Kapitel: Multiprofessionelle neurologische Rehabilitation

Bezeichnung Stufe* erstellt aktuell** gültig bis
Motorische Therapien für die obere Extremität zur Behandlung des Schlaganfalls S2e 12/2009 wird
überprüft
12/ 2014
Rehabilitation aphasischer Störungen nach Schlaganfall S1 09/2012 09/ 2017
Neurogene Sprech- und Stimmstörungen (Dysarthrie/Dysarthrophonie) S1 09/2012 09/ 2017
Neurogene Dysphagie S1 09/ 2012 08/2015 12/ 2016
Diagnostik und 
Therapie von neurogenen Blasenstörungen S1 08/ 2014 09/ 2017
Spastische Syndrome, Therapie  S1 09/ 2012 09/ 2017
Rehabilitation von sensomotorischen Störungen S2k 02/ 2012 09/ 2017
Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen S2e 09/ 2012 09/ 2017
Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen S2e 07/ 2015 12/ 2016
Rehabilitation bei Störungen der Raumkognition S1 07/ 2012 12/ 2017
Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall(ReMoS)[4] S2e 10/ 2015

 

*Stufe: Entwicklungsstufe sagt aus, auf welchen Grundlagen die Leitlinie erstellt wurde:

S1……. von einer Expertengruppe im informellen Konsens erstellte Empfehlungen
S2k…… formale Konsensfindung

S2e….. Konsensfindung mittels „Evidenz“-Recherche

S3……. alle Elemente einer systematischen Entwicklung. Dies ist die höchste Evidenzklasse. „Nationale Versorgungsleitlinien“ gehören dieser Stufe an.

** die Aktualität besteht teils in der Verlängerung der Gültigkeit, teils in der Änderung des Inhaltes.

 

In letzter Zeit stehen Leitlinien immer wieder im Schussfeld der Medien [5]. Den Vorwurf, Leitlinien dienen mehr der Industrie, insbesondere der Pharmaindustrie, kann man insbesondere für die Rehabilitation streichen. Die Rehabilitation lebt von der Arbeit der Therapeuten mit dem Patienten. Pharmakologie spielt zwar in Teilbereichen eine Rolle, hat jedoch selten den Stellenwert der sensorischen und motorischen Therapie durch medizinisch technische Dienste (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, …) und neuropsychologische Therapieformen.

Neuronale Plastizität

Neuronale Plastizität ist der Zauberbegriff der Rehabilitation von Schlaganfall- und anderen SHT-Patienten. Diese Plastizität oder Formbarkeit des Gehirns ist größer als sie noch vor 20 Jahren vorstellbar war. Schon lange war bekannt, dass im frühen Kindesalter die Fähigkeit der Vikariation gegeben ist. Hierbei wird die Funktion eines zerstörten Hirnareals durch ein anderes übernommen. So lässt sich auch erklären, warum bei einem Neugeborenen ein Media-Insult nicht unbedingt zu den klassischen Ausfällen führen muss. Auch die Fähigkeit des „Unmasking“ wird schon länger in der Rehabilitation genutzt. Hierbei werden nicht genutzte, an die Hirnläsion angrenzende Hirnareale aktiviert. Dies führt bei kleineren Schlaganfall-Arealen unter Umständen zur vollständigen Wiedererlangung von Fähigkeiten, trotz bestehend bleibenden zerebralen Defekts.

Viele neurowissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahrzehnte beschäftigten sich aber auch mit dem Phänomen, dass man die eingespeicherten Fähigkeiten des Gehirns nicht nur verbessern, sondern auch ändern kann. Wegweisend seien hier die Arbeiten von Eduard Taub oder Michael Merzenich genannt. [6]

Eine Erkenntnis der letzten Jahre ist jedoch wesentlich interessanter und wird wohl die Rehabilitation von zerebral geschädigten Menschen ändern: Die Neubildung von Nervenzellen aus neuronalen Stammzellen. Aus Tierversuchen an Mäusen [7] oder auch Kanarienvögeln [8] ist bekannt, dass es unter bestimmten Umgebungsbedingungen zu dieser Nervenzellneubildung kommt.

Überträgt man die Studien auf den Menschen, kann man wohl folgende Annahmen treffen:

 

  • Die Ziele des Patienten stehen im Vordergrund. Sie sind geprägt von seinem bisherigen Leben. Seine Biografie, seine familiären, beruflichen und sozialen Beziehungen sowie die Infrastruktur in diesen Bereichen sind maßgeblich für die Zielfindung.
  • Der hirngeschädigte Mensch benötigt auch in der Rehabilitation ein „enriched environment“ um rege genug zu sein, einen Willen für seine Zielerreichung zu erhalten.

 

Eine positive Grundeinstellung ist Voraussetzung für die Lernfähigkeit des Gehirns. Diese kann evtl. auch medikamentös durch SSRIs oder L-Dopa-Präparate erreicht werden. Hierzu gibt es auch eine positive Datenlage.

Erfolgreiche Rehabilitation

Eine erfolgreiche Rehabilitation hängt von folgenden Komponenten ab:

  • Biografie der betroffenen Person
  • Neurobiologisches Verständnis der Plastizität des Gehirns und die Möglichkeit der Einflussnahme
  • Einsatz evidenzbasierter Behandlungsmethoden zur Erreichung der Ziele

 

So entstanden aus den Behandlungsmethoden bereits einige erfolgreiche Konzepte, z.B.:

  • das von Taub entwickelte Forced-Use-Konzept
  • die Spiegel-Therapie
  • verschiedene Konzepte der Gruppentherapie
  • repetitive Bewegungstrainingsformen mit technischen Hilfsmitteln wie Laufbändern, Geh-, Arm- und Handtrainingsgeräten

 

Die technischen Geräte werden unterstützend in der Rehabilitation eingesetzt. In den Studien zeigen sie meist eine positive Wirkung auf dem Weg zum gewünschten Ziel. Man darf sich von ihnen jedoch keine Wunder erwarten. Das „Wunder“ entsteht vielmehr durch die neuronale Plastizität des Gehirns durch die Therapie „von Mensch zu Mensch“ – in der Interaktion Patient – Therapeut.

Literatur

  1. ICF http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/
  2. ICF-Checkliste Version 2.1a: http://www.deutsche-rentenversicherung.de/Allgemein/de/Inhalt/3_Infos_fuer_Experten/01_sozialmedizin_forschung/downloads/sozmed/klassifikationen/dateianhaenge/icf_checkliste_2006.html
  3. Neurologische Leitlinien der AWMF: http://www.awmf.org/fachgesellschaften/mitgliedsgesellschaften/visitenkarte/fg/deutsche-gesellschaft-fuer-neurologie-dgn.html
    Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation e.V.:
    http://www.dgnr.de/Leitlinien–Evidenztabellen.29858.html
  4. S2e-Leitlinie „Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall“, Kurzfassung. Neurol Rehabil 2015; 21(4): 179–184.
  5. Diener HC. „Ich habe fertig“ 10.Sept. 2015: http://www.dgn.org/leitlinien/3104-leitlinien-ich-habe-fertig
  6. Norman Doidge. Neustart im Kopf. 2. erweiterte Aufl. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2014.
  7. Kempermann G, Kuhn HG, Gage FH. More hippocampal neurons in adult mice living in an enriched environment. Nature. 1997 Apr 3;386(6624):493-5.
  8. Goldman SA, Nottebohm F. Neuronal production, migration, and differentiation in a vocal control nucleus of the adult female canary brain. Proc Natl Acad Sci U S A. 1983 Apr;80(8):2390-4.